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Chiles Weg zu einer neuen Verfassung

Chile macht sich auf, das politische Erbe der Pinochet-Diktatur (1973-1990) vollends abzuschütteln. Mit den größten Protesten der chilenischen Geschichte Ende 2019 wurde ein tiefgreifender Erneuerungsprozess in Gang gesetzt. Bei einem Volksentscheid stimmten 78% der Bevölkerung für die Erarbeitung einer neuen Verfassung. Seit Juli 2021 tagt die Verfassungsgebende Versammlung und schreibt Zukunft – für ein gerechteres Chile.

Chiles Weg zu einer neuen Verfassung

Am 18. Oktober 2019 krachte es zunächst in der chilenischen Hauptstadt Santiago. Anschließend lag das ganze Land in Aufruhr. Die Ankündigung der Preiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr war der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass überlaufen ließ. Die Wut der chilenischen Gesellschaft über soziale Ungleichheit brach alle Dämme. Metrostationen und Fahrzeuge wurden in Brand gesetzt, Straßenzüge verwüstet. Und die Polizei reagierte im Exzess mit massiver Gewalt, die zahlreiche Todesopfer und etliche Verletzte hervorrief.

Es folgten die größten Proteste der Geschichte Chiles. Bis zu knapp eine Million Menschen versammelten sich in Santiago, tausende Demonstrierende zogen durch Städte in der Atacama-Wüste bis nach Patagonien. Kreativ, energisch und lautstark forderte man eine Abkehr von dem ungebremsten, neoliberalen Wirtschaftssystem. Ob Rente, Bildung oder der Schutz indigener Minderheiten, ob Gesundheitswesen oder das Recht auf Abtreibung, ob Strompreise oder die Privatisierung des Wassers: Die Liste der Unzufriedenheiten war so vielschichtig wie die Massen der Protestierenden.

Damit gingen die Forderungen an die Substanz. Und so schrie die Bevölkerung: „Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre.“ Die neuen Metropreise mögen der Auslöser der Proteste gewesen sein. Doch ihren Ursprung haben sie in der grundlegenden Ablehnung einer Verfassung aus der Zeit der Pinochet-Diktatur, die das Fundament der ungerechten Verteilung schafft.

Mitunter stellt sich ja die Frage, welchen Effekt Proteste langfristig haben. Oft wirken Demonstrationen als Ventil, doch nachhaltige Veränderungen stellen sich vermeintlich selten ein. Dieser Fall mag anders sein. Denn die chilenische Regierung gab dem Druck auf der Straße bald nach und stellte die Erarbeitung einer neuen Verfassung mit einem Volksentscheid zur Wahl. Eine überwältigende Mehrheit von 78% der Bürger Chiles stimmten dafür. Und mehr noch: Im Juli 2021 trat die Verfassungsgebende Versammlung in Kraft, die paritätisch aufgestellt ist, Sitze für indigene Vertreter*innen garantiert und von parteilosen Mitgliedern dominiert wird. Vorsitzende des Gremiums ist Elisa Loncón, eine Mapuche.

Chile ist aufgewacht

Gewiss: Der weitere Weg ist steinig und ungewiss. Politische Grabenkämpfe und etablierte Marktstrukturen behindern eine echte Erneuerung. Geschehenes ist aufzuarbeiten. Und die Pandemie bremst den Prozess. Auch sind die gegenwärtigen Sorgen der Menschen so schnell nicht aufzulösen. Und doch ist es eine außerordentliche Chance. Chile kann auf einem weißen Papier sein Schicksal, seine Zukunft schreiben. Vielleicht wird das Land damit gar ein Exempel für die Welt